Fibromyalgie – in der Höhle des unsichtbaren Löwen

 

Stellen sie sich vor, sie gehen zum Arzt, weil sie seit Wochen Schmerzen haben. Schmerzen, die sie nicht recht beschreiben können. Außerdem können sie auch nicht angeben, wo genau die Schmerzen sitzen, weil sie jeden Tag woanders sind. Da sie in der Regel vollkommen gesund aussehen, werden sie vom Arzt als vielleicht etwas überarbeitet und mit einem Schmerzmittel wieder nach Hause geschickt. Überarbeitet können Sie aber gar nicht sein, denn sie schaffen es kaum, morgens aus dem Bett aufzustehen, geschweige denn, ihren alltäglichen Verpflichtungen nachzukommen. Sie wechseln den Arzt. Hier wird ihnen vielleicht Blut abgenommen um sich ein Bild über den Zustand ihres Körpers zu machen. Zustand ist dann auch gleich der richtige Ausdruck über ihr momentanes Befinden. Wenige Tage später erfahren sie, daß sie sich bester Gesundheit erfreuen, so sagt es jedenfalls das Laborergebnis. Leicht erhöhte Entzündungszeichen vielleicht, aber das kann auch an einem Infekt liegen, den sie vor kurzem durchgemacht haben. Durchgemacht haben sie allerdings nur die Nächte. Denn schlafen können sie auch seit Wochen nicht mehr. Also wechseln sie wieder den Arzt, weil sie hoffen, daß irgendjemand ihre Sorgen ernstnimmt und sie angemessen untersucht und behandelt. Mittlerweile leiden sie nämlich auch noch unter Nervosität, Heiserkeit und Reizblase. Sie suchen Fachärzte verschiedener Disziplinen auf und ihr Leben wird von der einen, sich immer wiederholenden Frage beherrscht: was stimmt nicht mit mir? Sie recherchieren im Internet und nehmen ihre letzten Kräfte zusammen um Informationen zu bekommen. Informationen über etwas, was sie selbst nicht greifen können. Irgendwann stoßen sie dann vielleicht auf das Wort Fibromyalgie und sind erleichtert, daß das Kind endlich einen Namen hat. Ernüchtert stellen sie fest, daß dieses „Kind“ jedoch niemand kennt und erst recht nicht den Namen aussprechen kann. Daß diese Diagnose, wie es medizinisch korrekt heißt, in der internationalen Klassifikation für Krankheiten in der Weltgesundheitsorganisation anerkannt ist und sogar einen eigenen Schlüssel hat (ICD-10: M79.7) bleibt ihnen verborgen. Verzweifelt suchen sie weiter. Das Vertrauen zur Schulmedizin haben sie längst verloren, haben sie doch schon alles an Medikamenten ausprobiert, was der Markt zu bieten hat. Deswegen tragen sie jetzt jede Menge Geld zu Heilpraktikern und Physiotherapeuten und probieren dankbar jeden neuen Therapieansatz aus. Sie erfahren von mangelndem Stoffwechsel in den Gewebestrukturen, Schädigungen an kleinsten Nervenfasern, beschäftigen sich mit Faszien , gesunder Ernährung und dem gesamten zentralen Nervensystem. Eigentlich könnten sie selber Medizin studieren um anderen zu helfen, nur sie selbst leiden immer und immer mehr. Es gelingt ihnen nicht, ihre Denkmuster zu überarbeiten und ihre Gefühlslage ist so angespannt wie ihre gesamte Muskulatur. Sie haben Angst, Wortfindungsstörungen und Tinnitus und empfinden sich als Präzedenzfall für die Medizin, gleich einem medizinischen Lexikon in einer komplett überarbeiteten Auflage. Sie zwingen sich, nichts mehr zu fühlen und nichts mehr zu denken, was das Problem in der Regel nur noch verstärkt. Abschalten können sie nicht.

Fibromyalgie ist keine psychische Störung und keine entzündlich rheumatische Erkrankung. Dennoch geht sie häufig mit Depressionen und verminderter Belastbarkeit einher. Ihr vielfältiges Erscheinungsbild erfordert eine ebenso individuelle Behandlung. Radikale Akzeptanz ist unbedingt notwendig, um mit der Erkrankung umzugehen. Austausch mit Gleichgesinnten und ein langsamer Aufbau des Selbstwertgefühls, daß den Betroffenen nach Jahren des Belächelns genommen wurde, sind hilfreich, um den Weg ins Leben wieder zu finden und nehmen dem bedrohlichen Löwen, den niemand sieht, ausser Sie, den Schrecken.

 

Katrin Meyer

 

 

 

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